Die türkis-blauen Verhandlungsteams nähern sich einem Regierungsübereinkommen und haben dabei am Dienstag (28.11.17) die Rückkehr zum System der Schulnoten beschlossen. Dafür ernten sie gleichermaßen Zuspruch und Widerstand.
Die Kronenzeitung zu den türkis-blauen Plänen
Bildungsexperten hätten einst die Abschaffung von Noten an den Volksschulen als Reform gefeiert, schreibt die Kronenzeitung, deren Journalisten in Verhandlerkreisen nachgefragt hatten. Die türkis-blauen Parteispitzen sehen das komplett anders. Demnach hatten die Teams beider Parteien von Anfang an die Wiedereinführung von Schulnoten geplant – in den Volksschulen ohnehin, in Neuen Mittelschulen als Abschaffung des zuletzt eingeführten Systems von sieben Schulnoten, das ÖVP und FPÖ gleichermaßen für wenig tauglich halten.
Das Bildungskapitel ist im türkis-blauen Regierungsentwurf fast abgeschlossen, es findet sich darin die Passage, dass man die Benotungssystematik überarbeiten und präzisieren wolle, und zwar für sämtliche Schultypen und -stufen. Die Notenskala solle klar in fünf Stufen von zwischen “Sehr gut” und “Nicht genügend” aufgebaut sein. Es müsse eine genaue Definition zu den Noten geben. Auch sollen Leistungen durchgehend für jeden Schüler digital aufgezeichnet werden, wobei die Bildungsoffensive von ÖVP und FPÖ schon im Kleinkindalter ansetzt: Mit dem verpflichtenden Kindergartenbesuch soll die Aufzeichnung beginnen, abschließen soll sie erst mit dem Ende der schulischen Bildungslaufbahn.
Neue Bildungsinhalte und Maßnahmen gegen Erlässe
Bei den Bildungsinhalten möchten die türkis-blauen Koalitionäre in spe das unternehmerische Denken und die wirtschaftliche Kompetenz stärker fördern. Auch Geschichte, Sozial- und Staatskunde sowie politische Bildung sollen ein stärkeres Gewicht erhalten. Ein Bekenntnis zur Ganztagsschule sowie zur Bildungspflicht für das Schreiben, Lesen und Rechnen findet sich ebenfalls in den ÖVP-/FPÖ-Plänen.
Ein Unterhändler aus der ÖVP kommentierte, dass ein “Absitzen” der Schulpflicht nicht mehr genügen könne. Wenn in den drei genannten Disziplinen bestimmte Ziele nicht erreicht würden, muss der Schüler per Gesetzesvorschrift weitere Bildungsanstrengungen unternehmen. Gegen sämtliche Schulerlässe sind Sofortmaßnahmen geplant. Diese und die zahlreichen Formulare des stark verwalteten Schulsystems sind den ÖVP- und FPÖ-Teams ein Dorn im Auge, weshalb das Konzept der voraussichtlichen Regierungsparteien titelt: “Sofortmaßnahme: komplette Überprüfung sämtlicher Erlässe, Rundschreiben und Verordnungen, Bewertung auf Praktikabilität und Erfordernis”.
Die Verhandler wissen hierzu Beispiele zu nennen. So habe es allein in den letzten vier Monaten – seit August 2017 – fünf Erlässe zum Gender-Thema gegeben. Jeder dieser Erlässe beinhaltete neue Richtlinien. Da auf diese Weise im Drei- bis Vier-Wochen-Rhythmus zum gleichen Thema ein neuer Erlass umging, darf man diese “Erlasswirtschaft” wirklich als überbordend bezeichnen. Doch darum geht es den Spitzen von ÖPV und FPÖ nicht allein. Vielmehr haben sie besonders die aus ihrer Sicht umstrittenen Erlässe zur politischen Bildung im Visier. Diese können natürlich der politischen Meinungsbildung dienen, die eine türkis-blaue Koalition sicher gern neu justieren möchte. Doch es geht auch um ganz praktische Dinge. Es gibt beispielsweise einen Erlass der Vorgängerregierung, der den Schulen das Aufstellen von Sponsoren verbietet. Das sehen ÖVP und FPÖ gemeinschaftlich anders, sie wollen und werden wohl diesen Erlass kippen.
Der “Standard” schreibt zum Thema,
dass die Türkisen und Blauen in der Bildungspolitik wohl einen Schritt zurück planen. Damit ist die Wiedereinführung des traditionellen, fünfteiligen Schulnotensystem gemeint, also die Abschaffung der Wahlfreiheit für die Volksschulen, die derzeit aufgrund ihrer Autonomie frei entscheiden können, ob und wie benotet und beurteilt wird.
Darüber befinden an jeder Schule zum Beginn des Schuljahres gemeinsam die Lehrer und die Eltern. Neben den klassischen Noten ist auch eine schriftliche “Leistungsinformation” mit größeren Differenzierungen möglich. Die verbale Beurteilung wollen ÖVP und FPÖ keinesfalls abschaffen, sie gilt als sinnvoll.
Dennoch soll die Notenvergabe wieder Pflicht werden, denn man müsse Leistungen übersichtlich vergleichen können. Wenn die Pläne in die Tat umgesetzt werden, wonach es nach dem Stand der Dinge wohl kaum Zweifel gibt, bedeutet dies eine starke Umstellung für sehr viele Volksschulen. Es liegen zwar mit Stand von Ende November 2017 keine Daten aus dem Bildungsministerium vor, wie viele Schulen derzeit auf Noten verzichten. Der Anteil lässt sich aber schätzen.
Vor der Einführung einer Wahlmöglichkeit per Gesetz ab dem Schuljahr 2016/17 hatten 2.000 von den rund 3.000 österreichischen Volksschulen entsprechende Schulversuche ohne klassische Bewertung durchgeführt. Diese zwei Drittel aller Schulen dürften sich mehrheitlich für eine Leistungsbeurteilung ohne Noten entschieden haben.
Die Noten entfallen damit in den Klassen 1 bis 3, in der 4. Klasse sind sie für die weitere Schülerlaufbahn ausschlaggebend. Die Abschaffung der siebenstufigen Benotung an Neuen Mittelschulen begrüßen auch Bildungswissenschaftler wie beispielsweise Stefan Hopmann, der die siebenstellige Skala als untauglich qualifiziert: Sie hätte zu unterschiedlichsten Interpretationen geführt.
Doch der Experte bindet ansonsten die türkis-blauen Schulpläne gar nicht zu hoch an: Sie seien vor allem “Symbolpolitik”, so Hopmann. Man solle die Notenfrage keinesfalls überbewerten. Die verbale Bewertung wurde in Österreich nämlich derart standardisiert, dass sie einer Notenvergabe gleichkomme. Wenn ein Schüler eine “befriedigende” Leistung erbringt, fehlt praktisch nur noch die Ziffer.
Die Tageszeitung “Heute” schreibt:
Die Wiedereinführung von Schulnoten ist ein massiver Rückschritt. So kommentierte die noch amtierende Bildungsministerin Sonja Hammerschmid von der SP die türkis-blauen Bildungspläne. Man solle den Eltern und Lehrern die erst kürzlich eingeführte Wahlfreiheit bezüglich der Schulnoten nicht nehmen: Diese wüssten am besten, was gut für die Kinder sei. Doch der Protest von der Noch-Regierungsebene dürfte wohl ergebnislos verhallen.
Schulnoten oder keine Noten?
Wohl in allen entwickelten Ländern gibt es eine generelle Diskussion um Schulnoten. Es gibt erfahrene Pädagogen, die ein System ohne Noten strikt ablehnen, denn unbenotet sei die Leistung eines Schülers nicht messbar.
Ebenso erfahrene Lehrer lehnen Noten in ihrer klassischen Form vehement ab, weil sie den Blick auf die individuellen Fähigkeiten eines Schülers verstellen würden. Hier ein Überblick zu den Argumenten beider Lager:
- Schulnoten ja: Die Abschaffung der Noten grenze an naive Romantik und sei auf jeden Fall biedere Gefälligkeitspädagogik, argumentieren die Noten-Befürworter. Schüler und Eltern würden von Noten profitieren, weil diese ein klares Feedback liefern. Das entlaste sogar schwächere Schüler, die wenigstens wüssten, wo sie stünden – und im Übrigen die Verbesserung um eine Note als großen Erfolg wahrnehmen, den sie ebenso feiern wie ein starker Schüler seine Verbesserung auf einer höheren Notenebene. Die allermeisten Eltern würden Noten als transparente Leistungsbilanz betrachten. Diese kennen sie aus ihren Berufen, sie finden sie notwendig. Es mag Diskussionen um eine einzelne Note geben, denn das System ist – wie jedes System – nicht perfekt. Doch es sei das bestmögliche System, Anpassungen, Korrekturzeichen und Verbesserungsvorschläge inklusive. Noten würden keine individuelle Förderung behindern, sie seien auch keine Schikane, man müsse sich nur ihrem klaren Urteil stellen. Nicht zuletzt würden sie in jede Richtung motivieren.
- Schulnoten nein: Die Gegner von Noten zumindest in den unteren Klassen führen als Hauptargument an, dass Noten überholt seien und ein im Kern ungerechtes Schulsystem unterstützen würden. Dieses fördere elitäres Denken auf der einen, die Ausgrenzung von Schwächeren auf der anderen Seite. Auch würden Noten eben kein auch nur halbwegs objektives Leistungsbild liefern – das hätten zahlreiche Untersuchungen belegt. Schüler hätten vielmehr Talente und Kompetenzen, die sich mit Noten nicht erfassen lassen. Ein weiterer Kritikpunkt lautet, dass Noten meistens relativ zum erteilten Unterricht und zur beurteilten Gruppe vergeben werden. Es ist also möglich, dass derselbe Schüler bei etwas anderem Stoff und in einer anderen Klasse anders benotet würde. Die inhaltliche Aussagekraft von Noten sei daher äußerst schwach. Es gibt auch politisch motivierte Argumente, nämlich der Verweis auf die Lernschwächen von Migranten, die an deren mangelnden Sprachkenntnissen liegen und per Benotung zu einer massiven (gewollten?) Ausgrenzung führen würden. Auch Kinder aus sozial schwachen Familien mit ungenügendem Bildungshintergrund würden auf diese Weise benachteiligt.